Zwei Tiergarten-Süd-Neulinge untersuchen in unterschiedlicher Art und Weisen die Geschichten und Gesichter unseres Kiezes. Hier ein Ausschnitt eines Gespräches zwischen Dr. Paul Enck und Lia Hiltz. Paul ist Autor der im Online-Journal MitteNdran zu findenden Serie Straßen Im Kiez sowie der Chronik Die Familie Lüderitz: Geschichte und Geschichten aus drei Jahrhunderten. Lia ist die verantwortliche Künstlerin für das Projekt Tiergarten-Süd: Eine Comics Entdeckung.

Lia und Paul beim Besuch im Kirchturm der 12-Apostel-Kirche in der Kurfürstenstraße
Paul: Lia, Du wohnst erst seit kurzem hier (Herbst 2020; ich ein wenig länger: Frühjahr 2013), aber Du stellst in einem deiner Comics die kritischsten Fragen, z.B. warum gibt es eigentlich keine Spuren, die älter sind als 1820, d.h. etwa 200 Jahre. Was suchst Du denn?
Lia: Mein Projekt ist vor allem ein künstlerisches Project, das aus meiner Lust, hier Wurzeln zu schlagen, herrührt. Teil einer lokalen Gesellschaft zu sein ist für mich neu.
Ich bin ehemalige Diplomatin und hatte nie die Zeit oder die Chance, für meine Nachbarschaft bedeutsam zu sein. Das möchte ich jetzt mit diesem Projekt ändern.
Ein Brennpunkt-Kiez wie Tiergarten-Süd ist eigentlich in einem beständigen Wechsel (State of Change). Deshalb das Interesse für die Geschichte der Region. Was und wer war hier vor mir?
Als Kanadierin nahm ich allerdings an, dass der Anfang dieser Geschichte des Kiezes sehr weit zurückläge. Was für eine Überraschung, dass die Geschichte von Tiergarten-Süd — und hier meine ich unsere aktuelle Gesellschaft, weil es natürlich in der Region seit Ewigkeiten immer Besiedlung gegeben hat! — in der Tat kürzer ist als die Geschichten vieler Gesellschaften meiner Heimat. Nur 1820 oder so.
Ich bin wieder an einen jungen Raum, wenn auch in der Mitte Europas. Es stört mich aber, dass die Spuren der mittelalterlichen Bauern und deren Arbeit anscheinend verschwunden sind.
Paul, Forschung und Recherche sind vermutlich für einen ehemaligen Wissenschaftler und Professor nichts besonders neu. Ich würde aber gerne wissen, wie hat die Arbeit als lokaler Historiker sich auf Änderungen Deiner Perspektive oder eben Deiner Persönlichkeit und Deines Lebens ausgewirkt?
Paul: Interessant, weil sich unsere Motive nicht so sehr unterscheiden: Wissenschaftler und Forscher bleibt man sein Leben lang, aber die Pensionierung als Forschungsleiter einer Universitätsklinik ist mit einem Bedeutungsverlust verbunden.
Tiergarten-Süd ist es geworden, weil die Nähe zur historischen Mitte der Stadt, dem Potsdamer Platz, attraktiv war („mit dem Rollator in die Kunsthalle“ haben wir das genannt).
Und so habe ich, als wir hierher zogen, nach einer Rolle für mich gesucht, und sie eher zufällig gefunden: Als ein Freund auf Besuch bemerkte, dass der Stadtteil eher gesichtslos wirkt, habe ich angefangen nachzusehen, wo das Gesicht, die Geschichte im Kiez, aufspürbar ist, und war selbst überrascht - und bin es noch immer - über die Vielfältigkeit.
Geschichte, finde ich, überlebt nicht (nur) in alten Gemäuern, sondern vor allem in Geschichten, die erzählt werden, und so sehe ich meine Rolle: Geschichten auszugraben und sie neu zu erzählen, damit sie nicht verloren gehen.
Lia, dein Bedauern über das Fehlen von Spuren des Mittelalters im bäuerlichen Teil von Nord-Schöneberg kann ich nur zum Teil verstehen, aber deine Herkunft aus Kanada gibt die Antwort: Du würdest auch im Toronto von heute (ich habe dort einige Zeit gelebt) keine Spuren der indigenen (indianischen) Bewohner finden, jedenfalls nicht außerhalb von Museen, sondern die sichtbare Geschichte beginnt faktisch mit den Einwanderern.
In einem so weiten Land wie Kanada haben indigene Strukturen außerhalb der Städte dagegen besser überlebt als im dicht besiedelten Europa: Im Siebenjährige Krieg (1756-1763, Preußen/Hannover gegen Russland/Österreich und Frankreich) wurden beispielsweise 80% des Dorfes Schöneberg komplett vernichtet, und da gab es hier im nördlichen Teil von Schöneberg noch nicht mal Bauernhöfe, sondern allenfalls Katen (oder Kotten) von Kossäten, Dorfbewohnern mit geringem Landbesitz, die zusätzlich Lohnarbeit verrichten mussten.
Das Malen von Geschichten ist vielleicht viel schwieriger, noch dazu mit Comics. Wo hast Du das gelernt?
Ein Bild von Lias Comic-Projekt
Lia: Ich habe bildende Kunst an einem Kunstgymnasium in Toronto gelernt. Danach habe ich einige Umwege genommen, und studierte Literaturwissenschaft und kreatives Schreiben an der McGill University in Montreal in Quebec und an der University of Windsor in Ontario, Kanada. Ich war danach nicht bereit für die selbstständige Arbeit einer Künstlerin und bewarb mich schließlich für den diplomatischen Dienst.
Letztes Jahr diente ich übrigens im deutschen Außenministerium als Austauschdiplomatin, eine sehr interessante und anspruchsvolle Zeit, auch wegen der Pandemie. Danach legte ich die Karriere auf die Seite. Obwohl diplomatische Arbeit abwechslungsreich ist, ist es mir nur mit sehr großen Mühen gelungen, die Erwartungen als Mutter, Karrierefrau und Künstlerin zu erfüllen.
Ich wollte übrigens Kunst immer ernsthaft betreiben, nicht nur als Hobby. Jetzt profitiere ich, auch während der Pandemie, vom „Comics Stammtisch Renate“ (https://comicinvasion.de/renate-stammtisch/), und freue mich auf einen Neustart von PanelUp!, Berlins internationale Comics Stammtisch (https://www.meetup.com/de-DE/Panel-Up-Berlins-International-Comics-Meet-Up/). Man erfährt von diesen Künstlern viel.
Paul, ich möchte wissen wie Du Themen aussuchst und würde auch gerne mehr über Dein Vorgehen wissen. Schritt für Schritt, wie bereitest Du einen Artikel vor? Und was wirst Du eventuell mit den Artikeln machen? Wie entscheidest Du, was Du darstellst?
Paul: Also eigentlich sind die Geschichten immer schon da, ich erzähle sie immer nur neu. Drei Beispiele: Ich gehe durch die Genthiner Straße und sehe am Haus Nr. 48 zum ersten Mal ein Schild mit den Namen Hellmut von Gerlach, das mir nie zuvor aufgefallen war.
Lia: Ich habe bildende Kunst an einem Kunstgymnasium in Toronto gelernt. Danach habe ich einige Umwege genommen, und studierte Literaturwissenschaft und kreatives Schreiben an der McGill University in Montreal in Quebec und an der University of Windsor in Ontario, Kanada. Ich war danach nicht bereit für die selbstständige Arbeit einer Künstlerin und bewarb mich schließlich für den diplomatischen Dienst.
Letztes Jahr diente ich übrigens im deutschen Außenministerium als Austauschdiplomatin, eine sehr interessante und anspruchsvolle Zeit, auch wegen der Pandemie. Danach legte ich die Karriere auf die Seite. Obwohl diplomatische Arbeit abwechslungsreich ist, ist es mir nur mit sehr großen Mühen gelungen, die Erwartungen als Mutter, Karrierefrau und Künstlerin zu erfüllen.
Ich wollte übrigens Kunst immer ernsthaft betreiben, nicht nur als Hobby. Jetzt profitiere ich, auch während der Pandemie, vom „Comics Stammtisch Renate“ (https://comicinvasion.de/renate-stammtisch/), und freue mich auf einen Neustart von PanelUp!, Berlins internationale Comics Stammtisch (https://www.meetup.com/de-DE/Panel-Up-Berlins-International-Comics-Meet-Up/). Man erfährt von diesen Künstlern viel.
Paul, ich möchte wissen wie Du Themen aussuchst und würde auch gerne mehr über Dein Vorgehen wissen. Schritt für Schritt, wie bereitest Du einen Artikel vor? Und was wirst Du eventuell mit den Artikeln machen? Wie entscheidest Du, was Du darstellst?
Paul: Also eigentlich sind die Geschichten immer schon da, ich erzähle sie immer nur neu. Drei Beispiele: Ich gehe durch die Genthiner Straße und sehe am Haus Nr. 48 zum ersten Mal ein Schild mit den Namen Hellmut von Gerlach, das mir nie zuvor aufgefallen war.
Foto: Paul Enck
Oder ein Leser von mitteNdran schreibt mir, dass er hoffe, ich würde mal was zu dem Dadaisten Walter Mehring schreiben, der in der Kluckstraße gewohnt habe. Ich weiß zwar, wer Walter Mehring war, aber nicht, dass und wann und wo er in der Kluckstraße wohnte, und von dem Journalisten Hellmut von Gerlach hatte ich ehrlicherweise noch nicht gehört. Und ich weiß, dass es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Schöneberger Vorstadt einen Armenarzt gegeben haben muss, aber ich weiß dies nur prinzipiell (es war politisch geregelt: preußische Städteordnung von 1853) und nicht, wer es war.
In allen drei Fällen schaue ich erst mal in den Berliner Adressbüchern nach (das geht digital, über die Zentral- und Landesbibliothek: https://digital.zlb.de/viewer/berliner-adress-telefon-branchenbuecher/) und suche mir Jahr für Jahr heraus, wer an einer bestimmten Adresse gewohnt hat, wann er dorthin gezogen ist, wann wieder weg, oder wer wann Armenarzt im Bezirk war und wo er wohnte, usw.
Dann mache ich mich bei Wikipedia und anderswo schlau zu den bekannten biographischen Daten: über Walter Mehring und Hellmut von Gerlach gibt es einiges, während es zu Dr. Wolfert, dem Armenarzt, keinerlei Informationen gibt - daher reizt der mehr.
Dann ruf ich einen Freund in München an, der für mich in Ancestry recherchiert (www.achestry.com), der großen genealogischen Datenbank mit ein paar hundert Millionen Einträgen - das kostet Geld, mein Freund hat dort aber ein Abonnement, und er besorgt mir dann innerhalb von einigen Tagen bis Wochen alle Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden der gesuchten Person, der Eltern, Großeltern, Ehepartner, Kinder und Kindeskinder, die er finden kann, manchmal bis hin zu Schiffspassage nach Amerika, Grabsteinen, Verwundeten- und Gefallenenlisten der Weltkriege und mehr.
Daraus lässt sich ein Familien-Stammbaum konstruieren, und die Lebensdaten geben den historischen Rahmen ab, in dem diese Person gelebt hat - vor, während oder nach einem Krieg oder einem anderen politischen Ereignis, in welchem Beruf, mit welchem Status, in welcher Gegend.
Wenn, wie beim Armenarzt, dieser studiert haben muss, kann man seine Schul- und vor allem Studiendaten in den Matrikeln (Registern) der Gymnasien und Universitäten wiederfinden, man kann nach Zeugnissen und Examina in Universitätsarchiven suchen.
Und wenn schließlich der Eintrag im Adressbuch zeigt, dass der Armenarzt ab einem bestimmten Jahr einen Titel (Sanitätsrat) trägt, dann weiß ich, dass ich in das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz nach Berlin-Dahlem muss, um die Akten der Verleihungen einzusehen, und dort steht meist noch einiges mehr über den Betreffenden, seine Verdienste, politische Position, Einkommens- und Lebensverhältnisse.
Oder eine Personalakte im Landesarchiv Berlin enthält einen selbstgeschriebenen Lebenslauf, einen Antrag auf Beförderung oder Versetzung, oder ein Ersuchen um die Genehmigung zur Heirat; oder im Landeshauptarchiv von Brandenburg in Potsdam findet sich ein (digitalisiertes) Testament.
Je persönlicher die Informationen, desto besser lässt sich die Geschichte erzählen.
Letzter Schritt sind dann Bilder und Illustrationen: Die Suche nach Fotos und Zeichnungen von Personen oder von ihren Häusern, und ich liebe alte Stadtpläne, weil sie die Veränderungen einer Stadt sichtbar machen. Manche Geschichte brauchen lange, bis sie fertig sind, deswegen gibt es immer zehn und mehr, die gleichzeitig entstehen.
Und für Personen, die bereits bekannt sind (Mehring, von Gerlach) dauert es oft deswegen länger, weil ich auf der Suche bin nach einem neuen Blickwinkel, aus dem heraus sie betrachtet werden sollen, oder neuen, bislang nicht bekannten Informationen: Dass die beiden Kilians keine Brüder waren, dass Ottilie Pohl eine große Familie hatte, dass Oskar und Cecile Vogt ihr Tierlabor mitten in einem Wohngebiet hatten, und dass der „Baron Kill-Mar“ gar kein Baron war.
Wenn alle geplanten 50 Geschichten zum Lützow-Kiez mal fertig sind Ende des Jahres, wird daraus vielleicht ein Buch. Und wenn manche der Geschichten einfach weiterwachsen, so wie die von George Kill-Mar, wird daraus vielleicht ein neues Projekt.
Lia, zurück zu Dir, und mit den gleichen Fragen: Wie entstehen Deine Comics, was bestimmt Deine Thematik, und wie ordnest Du Dich ein in die Comic-Szene? Und vor allem: Was wäre Dein Traum-Projekt, auf das Du hinarbeitest?
Lia: Jeder Comic ist eine Mischung aus künstlerischer Intuition, Schreiben und Recherchen. Manche Comic-Künstler fangen mit einem Thema an, und schreiben einen Text, den sie danach illustrieren. In meinem Fall dagegen ist das Verfahren oft umgekehrt, wie für viele bildende Künstler*Innen. Ich fange mit einer Vision der Szenen und dessen Geschehen an, und im Lauf deren Zeichnens und Malens helfen diese Bilder mir, die eigenen Einstellungen oder Gefühlen klar zu machen. Der Textentwurf kommt nach dem Bildentwurf.
Als ich arbeite mache ich zahllose Änderungen an Text und Bilder, weil sie müssen im Einklang sein, und Änderungen zu irgendetwas - visuell oder schriftlich - im Comic erfordern natürlich Änderungen zu allen anderen Teilen. Jeder Teil redet quasi mit den anderen zusammen.
Ein Comic hängt auch vom Ziel ab, das heißt, ist das Ziel hier, etwas emotional zu verraten? Möchte ich eher ein Konzept oder Argument illustrieren? Das Ziel bestimmt, ob ich stundenlang Recherche im Internet oder in Sachbüchern machen soll, oder stattdessen Fahrradtouren im Kiez oder Interviews mit Einwohnern. Jeder Comic ist eine neue Entdeckung.
Über Traumprojekte: ich war extrem überrascht, als ich 2021 zwei Stipendien bekam, eines von Berlin-Mitte für die Kosten dieses Projekts, und ein Stipendium aus Kanada für einen Grafik-Novel mit dem Titel „Die Ingenieurin.” Ein Traum ist 2022 meinen Grafik-Novel fertig zu machen und schließlich zu veröffentlichen.
Noch ein Traumprojekt wäre es, zukünftig Diplomatie zu thematisieren. In der Tat kenne ich diese Welt besser als andere Welten, weil ich dort 17 Jahre tätig war. Ich bin übrigens auf das „Künstler*In-in-Residenz“- Programm des Auswärtigen Amts sehr neugierig (https://www.auswaertiges-amt.de/de/aamt/zugastimaa/aartist-in-residence/216456).
Paul, welche von Deinen Beiträgen sollte man unbedingt lesen, wenn Du auf zwei oder drei beschränkt bist? Du hast ein bestimmtes Ziel von 50 Beiträgen erwähnt. Was kommt danach? Würdest du gerne Vorlesungen oder ähnlich über Berlin machen? Oder möchtest du stattdessen dieses Thema verlassen, und was anderes verfolgen?
Paul: Nach mehr als 700 Vorträgen (ohne die Vorlesungen für Studenten) und gleichvielen wissenschaftlichen Publikationen steht mir nicht mehr der Sinn nach Applaus, sondern danach, eine Zusammenschau der Dinge zu machen, die mich jetzt beschäftigen. Die Geschichte des Kill-Mar ist meine beste Geschichte bisher, weil hier viel Neues gefunden wurde, was noch nicht bekannt ist - und weil sie noch nicht zu Ende ist.
Und die drei Geschichten des Kielgan-Villenviertels haben mein Herz, das links schlägt, wiederbelebt: Architektur für die „oberen Zehntausend“ mag schön sein und erhaltenswert, aber sie kann keine Blaupause abgeben für das Wohnen der vielen Menschen, die erst eine Stadt ausmachen.
Insofern sollten wir nicht zu viel Rückschau machen und es stattdessen mit dem großartigen Peter Ustinov halten, der gesagt hat „Jetzt sind die guten alten Zeiten, nach denen wir uns in zehn Jahren zurücksehnen“.
Oder ein Leser von mitteNdran schreibt mir, dass er hoffe, ich würde mal was zu dem Dadaisten Walter Mehring schreiben, der in der Kluckstraße gewohnt habe. Ich weiß zwar, wer Walter Mehring war, aber nicht, dass und wann und wo er in der Kluckstraße wohnte, und von dem Journalisten Hellmut von Gerlach hatte ich ehrlicherweise noch nicht gehört. Und ich weiß, dass es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Schöneberger Vorstadt einen Armenarzt gegeben haben muss, aber ich weiß dies nur prinzipiell (es war politisch geregelt: preußische Städteordnung von 1853) und nicht, wer es war.
In allen drei Fällen schaue ich erst mal in den Berliner Adressbüchern nach (das geht digital, über die Zentral- und Landesbibliothek: https://digital.zlb.de/viewer/berliner-adress-telefon-branchenbuecher/) und suche mir Jahr für Jahr heraus, wer an einer bestimmten Adresse gewohnt hat, wann er dorthin gezogen ist, wann wieder weg, oder wer wann Armenarzt im Bezirk war und wo er wohnte, usw.
Dann mache ich mich bei Wikipedia und anderswo schlau zu den bekannten biographischen Daten: über Walter Mehring und Hellmut von Gerlach gibt es einiges, während es zu Dr. Wolfert, dem Armenarzt, keinerlei Informationen gibt - daher reizt der mehr.
Dann ruf ich einen Freund in München an, der für mich in Ancestry recherchiert (www.achestry.com), der großen genealogischen Datenbank mit ein paar hundert Millionen Einträgen - das kostet Geld, mein Freund hat dort aber ein Abonnement, und er besorgt mir dann innerhalb von einigen Tagen bis Wochen alle Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden der gesuchten Person, der Eltern, Großeltern, Ehepartner, Kinder und Kindeskinder, die er finden kann, manchmal bis hin zu Schiffspassage nach Amerika, Grabsteinen, Verwundeten- und Gefallenenlisten der Weltkriege und mehr.
Daraus lässt sich ein Familien-Stammbaum konstruieren, und die Lebensdaten geben den historischen Rahmen ab, in dem diese Person gelebt hat - vor, während oder nach einem Krieg oder einem anderen politischen Ereignis, in welchem Beruf, mit welchem Status, in welcher Gegend.
Wenn, wie beim Armenarzt, dieser studiert haben muss, kann man seine Schul- und vor allem Studiendaten in den Matrikeln (Registern) der Gymnasien und Universitäten wiederfinden, man kann nach Zeugnissen und Examina in Universitätsarchiven suchen.
Und wenn schließlich der Eintrag im Adressbuch zeigt, dass der Armenarzt ab einem bestimmten Jahr einen Titel (Sanitätsrat) trägt, dann weiß ich, dass ich in das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz nach Berlin-Dahlem muss, um die Akten der Verleihungen einzusehen, und dort steht meist noch einiges mehr über den Betreffenden, seine Verdienste, politische Position, Einkommens- und Lebensverhältnisse.
Oder eine Personalakte im Landesarchiv Berlin enthält einen selbstgeschriebenen Lebenslauf, einen Antrag auf Beförderung oder Versetzung, oder ein Ersuchen um die Genehmigung zur Heirat; oder im Landeshauptarchiv von Brandenburg in Potsdam findet sich ein (digitalisiertes) Testament.
Je persönlicher die Informationen, desto besser lässt sich die Geschichte erzählen.
Letzter Schritt sind dann Bilder und Illustrationen: Die Suche nach Fotos und Zeichnungen von Personen oder von ihren Häusern, und ich liebe alte Stadtpläne, weil sie die Veränderungen einer Stadt sichtbar machen. Manche Geschichte brauchen lange, bis sie fertig sind, deswegen gibt es immer zehn und mehr, die gleichzeitig entstehen.
Und für Personen, die bereits bekannt sind (Mehring, von Gerlach) dauert es oft deswegen länger, weil ich auf der Suche bin nach einem neuen Blickwinkel, aus dem heraus sie betrachtet werden sollen, oder neuen, bislang nicht bekannten Informationen: Dass die beiden Kilians keine Brüder waren, dass Ottilie Pohl eine große Familie hatte, dass Oskar und Cecile Vogt ihr Tierlabor mitten in einem Wohngebiet hatten, und dass der „Baron Kill-Mar“ gar kein Baron war.
Wenn alle geplanten 50 Geschichten zum Lützow-Kiez mal fertig sind Ende des Jahres, wird daraus vielleicht ein Buch. Und wenn manche der Geschichten einfach weiterwachsen, so wie die von George Kill-Mar, wird daraus vielleicht ein neues Projekt.
Lia, zurück zu Dir, und mit den gleichen Fragen: Wie entstehen Deine Comics, was bestimmt Deine Thematik, und wie ordnest Du Dich ein in die Comic-Szene? Und vor allem: Was wäre Dein Traum-Projekt, auf das Du hinarbeitest?
Lia: Jeder Comic ist eine Mischung aus künstlerischer Intuition, Schreiben und Recherchen. Manche Comic-Künstler fangen mit einem Thema an, und schreiben einen Text, den sie danach illustrieren. In meinem Fall dagegen ist das Verfahren oft umgekehrt, wie für viele bildende Künstler*Innen. Ich fange mit einer Vision der Szenen und dessen Geschehen an, und im Lauf deren Zeichnens und Malens helfen diese Bilder mir, die eigenen Einstellungen oder Gefühlen klar zu machen. Der Textentwurf kommt nach dem Bildentwurf.
Als ich arbeite mache ich zahllose Änderungen an Text und Bilder, weil sie müssen im Einklang sein, und Änderungen zu irgendetwas - visuell oder schriftlich - im Comic erfordern natürlich Änderungen zu allen anderen Teilen. Jeder Teil redet quasi mit den anderen zusammen.
Ein Comic hängt auch vom Ziel ab, das heißt, ist das Ziel hier, etwas emotional zu verraten? Möchte ich eher ein Konzept oder Argument illustrieren? Das Ziel bestimmt, ob ich stundenlang Recherche im Internet oder in Sachbüchern machen soll, oder stattdessen Fahrradtouren im Kiez oder Interviews mit Einwohnern. Jeder Comic ist eine neue Entdeckung.
Über Traumprojekte: ich war extrem überrascht, als ich 2021 zwei Stipendien bekam, eines von Berlin-Mitte für die Kosten dieses Projekts, und ein Stipendium aus Kanada für einen Grafik-Novel mit dem Titel „Die Ingenieurin.” Ein Traum ist 2022 meinen Grafik-Novel fertig zu machen und schließlich zu veröffentlichen.
Noch ein Traumprojekt wäre es, zukünftig Diplomatie zu thematisieren. In der Tat kenne ich diese Welt besser als andere Welten, weil ich dort 17 Jahre tätig war. Ich bin übrigens auf das „Künstler*In-in-Residenz“- Programm des Auswärtigen Amts sehr neugierig (https://www.auswaertiges-amt.de/de/aamt/zugastimaa/aartist-in-residence/216456).
Paul, welche von Deinen Beiträgen sollte man unbedingt lesen, wenn Du auf zwei oder drei beschränkt bist? Du hast ein bestimmtes Ziel von 50 Beiträgen erwähnt. Was kommt danach? Würdest du gerne Vorlesungen oder ähnlich über Berlin machen? Oder möchtest du stattdessen dieses Thema verlassen, und was anderes verfolgen?
Paul: Nach mehr als 700 Vorträgen (ohne die Vorlesungen für Studenten) und gleichvielen wissenschaftlichen Publikationen steht mir nicht mehr der Sinn nach Applaus, sondern danach, eine Zusammenschau der Dinge zu machen, die mich jetzt beschäftigen. Die Geschichte des Kill-Mar ist meine beste Geschichte bisher, weil hier viel Neues gefunden wurde, was noch nicht bekannt ist - und weil sie noch nicht zu Ende ist.
Und die drei Geschichten des Kielgan-Villenviertels haben mein Herz, das links schlägt, wiederbelebt: Architektur für die „oberen Zehntausend“ mag schön sein und erhaltenswert, aber sie kann keine Blaupause abgeben für das Wohnen der vielen Menschen, die erst eine Stadt ausmachen.
Insofern sollten wir nicht zu viel Rückschau machen und es stattdessen mit dem großartigen Peter Ustinov halten, der gesagt hat „Jetzt sind die guten alten Zeiten, nach denen wir uns in zehn Jahren zurücksehnen“.